Ihre Überraschung hat die junge Dame, mit Jeanshose und schwarze Lederjacke leger gekleidet, schnell überwunden, und ihre Zurückhaltung gleich mit. „Wir woll’n alle wieder zum Borsigplatz“, ruft sie und geht die letzten Meter entschlossen auf den Mann zu, der da gerade im dunklen Kapuzenpullover an ihr vorbeiläuft. Edin Terzic blickt über die Schulter, bleibt stehen und antwortet flott: „Ich auch!“ Noch ein flottes Selfie, das Lächeln kommt wie selbstverständlich und leicht über die Lippen, dann geht Borussia Dortmunds Trainer beschwingt und bestimmt weiter. Auf dem kurzen Dienstweg zwischen Profitrakt und der Geschäftsstelle Sport am Trainingszentrum Hohenbuschei hat er wieder einen Fan glücklich gemacht mit dem Foto und dem netten Kontakt, wieder einen Fan getriggert mit dem Sehnsuchtsziel aller Borussen. Meisterschale. Umzug. Ausnahmezustand in Schwarzgelb am Kreisverkehr im schmuddeligen Dortmunder Nordosten, wo der Ballspielverein 1909 gegründet wurde. So oft blieb das nur Wunschdenken. Und Ende Mai 2023 plötzlich so greifbar wie Terzic oftmals für die BVB-Anhängerschar
„Wir wollten erreichen, dass die Leute es kaum abwarten können, uns wieder spielen zu sehen“, sagt Terzic. Vor allem für die Heimspiele in der Saison 2022/23 darf er dieses Teilziel abhaken. Ob „das ganz große Ding“, wie er die mögliche Meisterschaft mit Worten zu umgehen versucht, dann am Ende bereitsteht, ein Umzug mit einer halben Million Menschen rund um den Borsigplatz Realität wird, bleibt bis zum Samstag um 17.20 Uhr offen. Es wäre in seiner zweiten Amtszeit als verantwortlicher Trainer des BVB der zweite Titel für Terzic. Das würde ausreichen als Stoff für ein modernes Fußballmärchen. Doch die Verbindung des 40-jährigen Chefcoachs zu seinem Verein ergänzt noch einen Gutteil an Gefühligkeit.
2020/21 war Terzic im Winter als Interimscoach für den beurlaubten Lucien Favre eingesprungen, die erfolgreiche Aufholjagd in der Liga wurde gekrönt vom Triumph im DFB-Pokal im leeren Berliner Olympiastadion. Die beflügelnden Erlebnisse musste sich die Mannschaft in den coronabedingten Geisterspielen selbst schaffen. Terzic gelang damals die emotionale Aufladung seiner Profis mit etwas Verzögerung. Es dauerte einige Wochen, bis die Spieler von ihm infiziert wurden mit jenem BVB-Virus, das den jungen Mendener schon als kleinen Knaben mit seinem Bruder aus der Nachbarstadt Menden nach Dortmund führte, um Pokalhelden zu beklatschen und Meisterspieler zu bejubeln. Mit seiner tief empfundenen Zuneigung zu Stadt und Stadion, zu Mannschaft und Menschen, kann der zweifache Familienvater nicht hinter dem Berg halten. Wovon das Herz voll ist, davon quillt der Mund über, auch bei ihm. Expertise plus Emotion: Das setzt Terzic als Verantwortlichen zwar immer wieder der Gefahr aus, in seiner Rolle als Fan zu impulsiv zu reagieren, wo der nüchterne Blick des Übungsleiters gefragt wäre. Gleichzeitig beschert ihm die Tatsache, dass der Trainerstuhl in Dortmund alles für ihn bedeutet, eine Überzeugungskraft und Intensität als Moderator und Motivator, die ihresgleichen sucht.
Diese Hingabe verfängt, bei manchen später, bei anderen früher. Seinen Trainer mache es aus, „unglaublich viel Spaß und eine überragende Ansprache zu haben, uns mitzunehmen“, staunte im Oktober Neuzugang Niklas Süle, der in seiner Karriere hochdekorierte Coaches bei der Vermittlung ihrer Instruktionen erlebt hat. „Mit Edin habe ich eine neue Erfahrung gemacht. Ich hatte noch nie einen Trainer, der so an einen Verein gebunden ist. Edin ist ein Dortmunder Junge. Das merken wir als Mannschaft jeden Tag.“ Da war Süle seit zwei Monaten Borusse.
Lange – und in mehreren Anläufen vergeblich – hat der BVB seit dem Ende der Ära von Jürgen Klopp im Mai 2015 nach einem Typen gesucht, der die Massen ähnlich begeistern kann wie zu seiner Zeit der Übertrainer mit den flotten Sprüchen. Mehr noch als an dem Vergleich mit Klopp scheiterten seine Nachfolger trotz des maximal befähigten Personals am tieferen Verständnis für die Malocher-Mentalität im Ruhrgebiet und den Fußball-Enthusiasmus der hiesigen Fans. Mit der abrupten Trennung von Marco Rose vor Jahresfrist, die aus diesem Grund und nicht in sportlichen Erwägungen ihre Ursache hatte, ging die Klubführung um Hans-Joachim Watzke ein großes Wagnis ein. Nach der Karte Terzic hätte der mächtige Vereinsboss nicht mehr viele Trümpfe in der Hand gehabt. Als in der mit viel Murren begleiteten Hinserie die Ergebnisse schwächer und die Erlebnisse weniger wurden, kamen auch öffentliche Zweifel an Terzic als Trainer auf. Aber nicht an Terzic als Typen. Der antwortete auf Platz sechs im Winter kurz mit Frust („Ich wollte zwei Tage nichts sehen und hören“) und dann mit Lust: Mehr als je zuvor kniete er sich bildlich in die Arbeit, hinterfragte alles und jeden und nicht zuletzt sich selbst. Seine Folgerung: Er wollte mehr denn je diese hundertprozentige Bereitschaft vorleben und verlangen, noch mehr Gas geben, die Anforderungen an die Spieler hochschrauben, alle Schlupflöcher für Schlafmützigkeit und die Lücken für Laissez-faire schließen. Es könnte Mannschaften im Fußball geben, die vielleicht qualitativ besser seien, sagte er, „aber es kann keine Mannschaft geben, die es mehr will als wir“.
Nationalität? ,,Fußball"
“Auch auf die Gefahr hin, die Plattitüden ein wenig über zu strapazieren, steckt darin ein Stück der klassischen Gastarbeiter-Geschichten, von der in und um Dortmund jeder ein Kapitel kennt. Terzics Eltern – der Vater Bosnier, die Mutter Kroatin – sprachen zuhause jugoslawisch und taten alles, um ihren Kindern in der westfälischen Kleinstadt die Chancen auf ein gutes Leben mitzugeben in der neuen Heimat, mit Tugenden und mit Tatkraft. Die Herkunft sollte wertgeschätzt bleiben, doch der Fokus galt der Zukunft. Kroate oder Kumpel? Balkan oder Borussia? „Meine Nationalität ist Fußball“, sagt Terzic mit Überzeugung in seiner mitunter pathetisch angehauchten Art. Pünktlichkeit und Disziplin könnte man als typisch deutsche Charakterzüge wiederfinden, erklärt er, die Emotionalität und das offene Herz als Erbe der Eltern. Wenn Kroatien spiele, sagt Terzic, zähle er ausnahmsweise nicht analytisch die Anzahl der Spieler, die bei einem Eckball den Strafraum besetzen. Dann verfolge er den Ball und wolle ihn am liebsten ins Tor schreien. Genauso wie er es als Dauerkarteninhaber beim BVB getan hat.
Seine Popularität im Klub und unter den Fans ist aufgrund seiner eng mit Borussia Dortmund verzahnten Laufbahn (Scout, Analyst, Jugendtrainer) folgerichtig, aber längst nicht selbstverständlich. Vielleicht ist sie vergleichbar mit einem jener Schützlinge aus den Mannschaften 2011 und 2012 wie Kevin Großkreutz oder Marcel Schmelzer, die für ihre Aufgaben nicht mit einem Übermaß an Talent, aber dafür mit umso mehr Willen, Leidens- und Begeisterungsfähigkeit gesegnet waren. Den Eigengewächsen verzeiht das Publikum mehr Fehler, ihre Aktionen werden häufiger gewürdigt, ihre Heldentaten inbrünstiger besungen. So ähnlich könnte das bald für Terzic gelten, der neben seiner Fußballbesessenheit – es gibt ein mehrere Hundert Seiten dickes Skript, in dem er seine Vorstellungen als Cheftrainer niedergeschrieben hat – auch charakterlich viele Anknüpfungspunkte bietet. Mit ihm fiebern und leiden die Leute auf den Tribünen intensiver. Gelingt ihm gleich im ersten kompletten Amtsjahr der Husarenstreich mit dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft, könnten sich die Statistiker entsprechende Umfragen nach dem beliebtesten Dortmunder des Jahres ersparen. Borussias Coach muss für sie ja nicht der beste, extrovertierteste, taktisch versierteste Trainer der Welt sein. Es muss der passende Trainer sein. Einer von ihnen. Einer für alle.
Terzic erfüllt sehr viele Kriterien des idealtypischen BVB-Chefs, jetzt könnte er als Hauptverantwortlicher gleich im ersten Anlauf die allergrößten Sehnsüchte stillen, mit dem ersten Meistertitel nach 2012. Teil eins des Plans ist aufgegangen: Dortmund brennt wieder für Borussia, die Konstellation des Bundesliga-Endspurts tut ihr Übriges dazu. „Das ist etwas, dass es lange hier nicht gab, dass wir vor dem letzten Spieltag das ganz große Ding erreichen können“, sagt er. „Ich freue mich wirklich jeden Tag darauf. Ich freue mich, dass ich in Dortmund ganz viele Jungs und Mädels in BVB-Trikots sehe, dass die Fahnen mittlerweile wieder in den Vorgärten hängen.“
Er hat für die BVB-Fans ja schon zu Beginn seines Engagements mit einem flammenden Appell den Ton gesetzt: „Lasst uns so hungrig sein wie noch nie, lasst uns so hart arbeiten wie noch nie. Lasst uns auch so positiv sein wie noch nie. Und am allerwichtigsten: Lasst uns so laut sein wie noch nie“, sagte Terzic. Dann sei er „sicher, dass wir die große Chance haben, zu feiern wie noch nie“. Darauf habe er „mega Bock“.
Nun rückt der lang ersehnte Ausnahmezustand immer näher, gleichzeitig kommt der Moment überraschend und unerwartet. „Ich habe mir noch gar keine Gedanken gemacht, wie Tag 1 nach der Saison für mich oder für die Mannschaft aussehen wird“, berichtet Terzic. Er wird sich im Fall der Fälle treiben lassen im schwarzgelben Jubelkorso, wie als Kind. Diesmal nicht nur als Fan, sondern auch als Trainer und Heilsbringer. Und vor allem als Borusse durch und durch.
Von Jürgen Koers