Irgendwann auf diesem langen Weg zur nun wahrscheinlichen neunten deutschen Meisterschaft hat Edin Terzic die richtigen Knöpfe gedrückt und an den richtigen Schrauben gedreht. Genervt von einer Hinrunde, die nicht seinen, die auch nicht den Erwartungen des Klubs, die der Mannschaft und die der Fans entsprach, krempelte Trainer-Novize Terzic nicht alles auf links – aber er schärfte Konturen und nahm viele kleinere Anpassungen vor, die im Resultat zu einer deutlich verbesserten und stabileren Performance nach der WM-Pause beitrugen. Begünstigt auch von der Tatsache, dass der Dortmunder Trainer nach einer von Verletzungen wichtiger Spieler geprägten Hinserie endlich auch das entsprechende Personal zur Verfügung hatte, um Borussia Dortmund so zu repräsentieren, wie der Verein das von seinem Selbstverständnis her auch erwartet.
Möglicherweise haben Terzic, Sportdirektor Sebastian Kehl und Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke, die drei starken Männer bei der Borussia, im Winter im engen Kreis darüber philosophiert, wo dieser Weg enden könnte. Vom Ziel der sicheren Champions-League-Qualifikation rückten sie auch auf Platz sechs stehend nicht ab, vielleicht hat man sich intern Platz zwei auf die Fahnen geschrieben, der die Dortmunder Position als zweite starke Kraft auch optisch dokumentiert hätte.
Vielleicht hat man ganz im Geheimen auch gehofft, eine Serie könnte schnell die eigene Position deutlich verbessern, vielleicht gab es auch über die erkennbaren Probleme des da noch unangefochtenen Tabellenführers Bayern München hinaus Signale, dass dem Rekordmeister eine schwierige Rückrunde bevorstehen könnte. Ernsthaft an den Titel geglaubt haben dürfte aber niemand. Dafür waren die Leistungen zu instabil, die Mannschaft einmal mehr zu wankelmütig.
Natürlich haben die Bayern ihren Beitrag geleistet zum hoffentlich märchenhaften Ende dieser turbulenten Saison. Bei keiner ihrer zehn Meisterschaften in Serie schlossen die Münchner die Spielzeit schlechter als mit 77 Punkten ab. Oft übersprangen sie die Marke von 80 Zählern und wiesen dadurch eine beeindruckende Konstanz auf, die die Konkurrenz, vor allem den BVB, vor unlösbare Probleme stellte.
Gewinnt Borussia Dortmund nun am Samstag gegen Mainz, wird der BVB mit 73 Zählern als Deutscher Meister ins Ziel einlaufen. Es wären dann nur vier mehr als in der Vorsaison.
Schämen muss sich der BVB für dieses Ergebnis freilich nicht. Wer nach 34 Partien oben steht, hat sich den Lorbeer auch verdient, diese Floskel gilt auch nach einer Spielzeit, in der der Rekordmeister plötzlich menschelte und Schwankungen zeigte, die man zuvor von ihm nicht kannte. Die Maxime lautete seit Jahren, „da zu sein", wenn die Bayern mal schwächeln. In der Rückrunde hat Borussia Dortmund eindrucksvoll bestätigt, die notwendige Qualität dafür abrufen zu können. Der BVB wird ein würdiger Meister sein, nicht nur, weil die Konkurrenz noch öfter patzte in einer Spielzeit, in der das entscheidende Kriterium war, erfolgreich auf Rückschläge zu reagieren. Das gelang der Borussia eigentlich immer.
Nach den rauschenden Feiern geht die Arbeit aber weiter. Dabei bietet vor allem die Hinserie Ansätze für Verbesserungspotenzial. Die noch zu geringe Tiefe im Kader ist ein großes Thema. Wenn wichtige Spieler verletzt fehlten, war auch in dieser Spielzeit der Niveauverlust noch zu hoch, um Pleiten wie in Wolfsburg, in Köln oder auch in Gladbach zu vermeiden.
Allesamt unnötige Niederlagen - wie auch die Punktverluste bei einigen rätselhaften Unentschieden in der Rückserie, wo man Spielverläufe bestimmt, dann aber die Kontrolle aus der Hand gegeben hat.
In Sportdirektor Sebastian Kehl scheint der richtige Mann am wichtigen Platz des Kaderplaners zu sitzen. Kehl hat im vergangenen Jahr, noch an der Seite von Michael Zorc, den notwendigen Kaderumbau mit Konsequenz eingeleitet. Mehr Tempo und mehr Widerstandsfähigkeit, das waren zwei Eckpunkte der ersten Transfer-Offensive unter seiner Federführung. Weitere Justierungen werden nun in diesem Sommer folgen. Spätestens in der Woche nach der wahrscheinlichen Meisterschaft wird Jude Bellingham mit ziemlicher Sicherheit seinen Abschied verkünden. Auch die Zukunft von Raphael Guerreiro ist offen. Zwei Leistungsträger, deren Verlust ein Qualitätsloch reißen würde. Fest steht seit Mittwoch, dass nach Marco Reus auch Mats Hummels ein weiteres Jahr das BVB-Trikot tragen wird.
Es gibt viel zu tun, um den jetzigen Erfolg konservieren zu können. Kehl und Terzic ist es zur Rückrunde gelungen, eine Leistungskultur zu etablieren, die die Grundbedingung für die rasante Aufholjagd war. Das war möglich, weil die Ausfallzeiten durch Verletzungen sich in engen Grenzen hielten. Mehr Tiefe im Kader durch mehr Qualität ist dennoch unabdingbar, um zukünftig auch für die anderen Phasen gewappnet zu sein.
Die Leistungen im Jahr 2023 haben das große Potenzial dieser Gruppe immer öfter aufblitzen lassen. Doch es wird herausfordernd genug, die märchenhafte Reise an die Spitze zu wiederholen. Die Bayern werden ihren Selbstzerfleischungs-Prozess hinter sich lassen, sie werden reagieren, wie sie immer reagiert haben: mit Zukauf von noch mehr Qualität. Und von hinten drängt vehement RB Leipzig. Wie ernst diese Mannschaft als Konkurrent um Titel und Weihen zu nehmen ist, hat sie seit dem Trainerwechsel zu Marco Rose gezeigt.
Einen Triumph wie den, der am Samstag bei einem Sieg winkt, lasse sich nicht mit all dem Geld kaufen, das diese Spieler in Dortmund verdienen, hat Edin Terzic nach dem 3:0-Triumph in Augsburg gesagt und damit hoffentlich einen Nerv getroffen. Eine Meisterschaft erlebt zu haben, sollte Motivation genug sein für die kommende Saison, in der der Druck auf Spieler und Verein als Titelverteidiger nicht geringer sein würde.
Ein paar Tage lang aber dürfen ab Samstagabend, 17.25 Uhr, hoffentlich erst einmal alle in den Feiermodus schalten. Sie haben es sich verdient.