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Ein Projekt in Unna: Geschenkt: gemeinsame Zeit gegen die Einsamkeit

2023 ging der erste Platz beim Heimtatpreis an das Projekt Zeitschenker. Drei Perspektiven auf ein nachahmenswertes Projekt aus Unna.

Beim Schachspiel finden „die zwei Bernds“ auch Zeit für gute Gespräche. FOTOS: NICOLA NAWRATH

Das Projekt Zeitschenker in Unna besteht seit 2018. Seit der letzten Planungsphase ist Nicola Nawrath engagiert im Projekt der Kirchengemeinde St. Katharina. Dem Start vorausgegangen sind Jahre der Konkretisierung, nach dem Impuls der damaligen Gemeindereferentin Michaela Labudda, die sich auf die Seniorenarbeit spezialisiert und festgestellt hatte: „Wir müssen unbedingt mal was für die Senioren machen.“

Organisationstalent

Nicola Nawrath übernahm den Posten der Planerin und Organisatorin. Früher einmal hatte sie für ihre berufliche Zukunft ein BWL-Studium absolviert und wäre wohl Steuerberaterin geworden, mutmaßt sie, wären ihr da nicht ihre vier Kinder „dazwischen gekommen.“ So entschied sie sich für die Arbeit zu Hause. Nachdem das Jüngste ihrer Kinder eingeschult worden war, stieg sie in ehrenamtliche Tätigkeiten ein und begann vor sechs Jahren bei den Zeitschenkern.

Anfangs war das Projekt vor allem auf 1:1 Besuche bei Senioren ausgelegt, die sich einsam fühlten. Heute wird noch viel mehr möglich gemacht: Neben den Einzelbesuchen organisieren die Zeitschenker seit zwei Jahren gemeinsame Treffen für alle Senioren. Zweiwöchentlich finden Treffen im Begegnungscafé des Alléecenters statt. Dort wird in großer Runde bei Kaffee und Kuchen erzählt und anschließend in kleineren Gruppen gespielt.

Viele suchen Gemeinschaft

Wenn kein Treffen ansteht, verabreden sich mobile Senioren gern zusätzlich in einem Café. Es werden per Messenger-App Fahrgemeinschaften gebildet, damit alle hinkommen. Nicola Nawrath berichtet, dass sich mittlerweile auch viele Senioren untereinander kontaktieren und gemeinsam Urlaub machen, oder Feste wie Weihnachten und Silvester zusammen feiern. Es haben sich einige Untergruppen gebildet. Auch eine Radfahrergruppe, in der einige Zeitschenker mitmachen.

Eine Besonderheit ist der „Herrengesprächskreis“, den zwei männliche Zeitschenker im Bethesda Pflegeheim anbieten. Das vorwiegend weibliche Personal des Pflegeheimes hatte bemerkt, dass die wenigen dort lebenden Männer mit ihnen nicht frei über alle Themen reden konnten. Seitdem machen sich zweiwöchentlich zwei Zeitschenker auf den Weg ins Heim und leiten den Herrengesprächskreis „mit viel Herzblut.“ Jedes Treffen steht unter einem besonderen Thema und zur Vorbereitung wird auch schon mal ein Kuchen gebacken.

Der Kreis ist gewachsen

Aktuell nehmen rund 40 Senioren, meistens über 80 Jahren, aber auch schwer erkrankte Menschen jüngeren Alters die Zeitschenkerangebote wahr vor allem, weil sie sich einsam fühlen. Manchmal melden sich die Menschen selbst, manchmal melden sich Leute aus dem Umfeld, die sich sorgen. Im Projekt engagieren sich rund 30 aktive ehrenamtliche Zeitschenkende im Alter zwischen 40 und über 80 Jahren. Einige sind als „passive Mitglieder“ dabeigeblieben. Viele steigen ins Ehrenamt ein, wenn sie aus dem Berufsleben ausscheiden. Immer, wenn sich wieder einige „Neueinsteiger“ gefunden haben, bietet Nicola Nawrath einen Kurs an, um alle auf ihren Einsatz vorzubereiten.

Wichtige Themen sind Kommunikation, Angebote von Kooperationspartnern beispielsweise der Notruf der Caritas, Demenz, Prävention, sexuelle Gewalt oder das große Thema Trauer.„Fast alle Senioren trauern,“ meint Nicole Nawrath. Die Trauer könne sich auf den Verlust von Menschen beziehen, aber auch auf den Verlust der Eigenständigkeit, wenn Einschränkungen zunehmen. Die neuen Ehrenamtlichen lernen so ihr Tätigkeitsfeld und sich bereits untereinander kennen.

Wenn sich dann eine Person meldet, die einen Zeitschenker sucht, überlegt Nicola Nawrath, wer interessenmäßig und vom Zeitaufwand her infrage kommt. Sie begleitet das erste Treffen. Danach Zeitschenker organisieren sich und Senior selbstständig. Die Formen sind vielfältig. Manche Senioren und Zeitschenker treffen sich an festgelegten Tagen, andere eher zu spontanen Treffen, auch in größerer Runde. Manche Teams telefonieren vor allem zu festen Zeiten miteinander.

Seit August gibt es ein weiteres Angebot bei den Zeitschenker, gefördert mit 1000 Euro aus dem Projekt gegen Einsamkeit des Landes NRW: An zwei Tagen im Monat gibt es bald„Urlaub ohne Koffer“, das sind längere Ausflüge für Menschen, die wenig rauskommen. Es sind schon einige Touren, wie beispielsweise ein Besuch auf einer Alpakafarm organisiert.

Durch Krankheit einsam

Nach dem Gespräch mit Nicola Nawrath geht es weiter zu Bernd Kosczynski, der seit 2023 von den Zeitschenkern Besuch erhält. Er ist 74 Jahre alt, gelernter Schriftsetzer und hat lange bei Zeitungen gearbeitet. Vor sechs Jahren ist er an Lungenfibrose erkrankt. „Aber die Leute, die mich kennen, wissen, dass ich den Kopf nicht in den Sand stecke,“ fügt er hinzu.

Seine Partnerin ist vor anderthalb Jahren gestorben. „Ich hab' niemanden mehr. Mit der Krankheit bin ich einsam. Ich kann gar nicht raus, weil ich 24 Stunden Sauerstoff benötige und die mobilen Geräte nur drei, vier Stunden Sauerstoff liefern. Von der Warte her war das mit den Zeitschenkern ein Geschenk für mich.“

Ganz anders empfindet er die Gespräche mit den Menschen, die ihm ihre Zeit schenken: Die Einsamkeit holt einen ein, ob man will oder nicht. Aber ich zehre von den Gesprächen. Da ist immer noch so ein Nachhall bei mir.“ Mittlerweile hat er vier oder fünf „Jungs,“ die sich regelmäßig bei ihm melden. Und er wagt das Statement: „Ich habe den Pflegedienst und meine Haushaltshilfe. Alles andere sind Männer. Und Männer sind viel gesprächiger, entgegen der allgemeinen Auffassung. Bei meiner 74-jährigen Erfahrung kann ich das so sagen,“ scherzt er.

Ehrliche Worte

„Das Wichtigste ist aber, dass wir sagen, was wir denken. Auch wenn uns etwas stört, dass wir nicht damit hinterm Berg halten.“ Christoph war der erste Kontakt, den ihm Nicola Nawrath vermittelt hat. Der ist ein Highlight“, freut sich Bernd Koczinksi über den guten Kontakt. „Ein ehemaliger Mathelehrer. Mit ihm spiele ich Skat. Wir sind auf der gleichen Wellenlänge, haben die gleichen Musikinteressen und politischen Einstellungen. Wenn ich das Wort „Woodstock“ erwähne, dann leuchten bei ihm schon die Augen. Und: Bei Rewe bestelle ich immer meine Lebensmittel und heute geht er sie für mich abholen.“

Bernd Kosczynski ist hörbar glücklich, weil sich durch die Zeitschenker vieles für ihn zum Positiven verändert hat. „Bin nicht der, der immer jammert. Als ich Nicola Nawrath kennengelernt habe, stimmte die Chemie. Jetzt hab' ich vier-fünf Leute um mich 'rum: Das ist alles durch die Zeitschenker gekommen.“ Er wird regelmäßig abgeholt zum Skat, und Bernd Schaumann spielt häufig Schach mit ihm. „Dann ruft er an: Haste Lust? Dann kommt er vorbei für eine Partie. Die dauert zwei, drei Stunden. Und wir reden auch. Wir haben tolle Gespräche. Das Spektrum ist breit gefächert. Angefangen bei Politik, egal welche Themen.“

Erst 2023 ist er in die Zeitschenkerrunde hineingekommen: Da hatte er sich bei der Seniorenberatung des Kreises Unna gemeldet und dort hatte man ihn an Frau Nawrath Nicola hat weitergeleitet, dann versucht, jemanden aufzutreiben, und so ist alles ins Rollen gekommen. Dann habe ich auch Bernd Schaumann kennengelernt und noch weitere Leute, so ist dieses Netzwerk entstanden.“

Ursprünglich stammt Bernd Kosczynski vom Niederrhein. Der Liebe wegen ist er ins Ruhrgebiet auf einen entlegenen Bauernhof gezogen. Da herrscht absolute Ruhe.„Als die Jungs das erste Mal hier waren, meinten sie: Schön ruhig hast Du es hier.“

Gemeinsame Ausflüge sind auch ein Teil des Angebotes der Zeitschenker. FOTO: NAWRATH
Gemeinsame Ausflüge sind auch ein Teil des Angebotes der Zeitschenker. FOTO: NAWRATH

Menschen um sich haben

Er ist glücklich, dass er jetzt seine Zeitschenker hat: „Aus meiner Einsamkeit werde ich durch ihre Anrufe so richtig schön rausgerissen. Ich bin ein kommunikativer Mensch. Zwar lese ich viel, mache auch einiges am Computer, zum Beispiel Bildbearbeitung mit Photoshop, aber irgendwann habe ich mir gesagt: Du musst doch Menschen um dich haben!“

Regelmäßig alle vierzehn Tage wird er jetzt ins Spielecafé abgeholt. „Ich werde überall eingebunden. Kürzlich waren wir Eisessen und auch einmal Frühstücken. Die soziale Kommunikation ist schon toll. Spielen und reden. Über Gott und die Welt. Themen gibts ja genug.“

Lediglich seine Erkrankung macht ihm manches unmöglich.„Sie erleben mich an einem Tag, wo es mir normal geht. Aber es kommt auch vor, dass ich mich gar nicht artikulieren kann.“ Letzte Woche musste er kurzfristig ins Krankenhaus. Nicola Nawrath hat ihm kurzerhand seine Sachen für das Krankenhaus gepackt.„Eine tolle Frau! Sie ist der Kopf, sie organisiert alles. Aber wenn ich sie brauche, ist sie auch da. Oder versucht, das möglich zu machen.“ Mit seiner Krankheit hat er sich abgefunden. Er ist dankbar, dass er mit seiner Partnerin, die 22 Jahre lang an seiner Seite war, die Welt ausgiebig bereist hat.

Über den Tellerrand hinaus

“Wir haben immer gesagt, wir müssen über den Tellerrand schauen, das hat mich geprägt. Wenn wir das alles nicht gemacht hätten, würde ich verblöden.“ Und er denkt auch: „Wenn man nur über das Wetter redet, ist es nicht so prickelnd. Man muss schon Themen haben. Man muss sich auch nicht in den Vordergrund stellen. Und die Chemie muss stimmen, sonst hat es keinen Zweck.“

Das Zeitschenken ist hier keine Einbahnstraße. Es ist eher ein Geben und Nehmen: „Bernd hat mir meinen Staubsauger repariert. Der hat auch immer neue Projekte. Und dann fragt er schon mal: Kennst du dich damit in Photoshop aus?“ Und Bernd Schaumann bestätigt: „Nichts, was ich hier mache, mache ich aus Mitleid. Alles, weil es Spaß macht.“

Der 64-jährige Zeitschenker verbringt mittlerweile rund dreiviertel seiner Zeit mit Zeitschenker-Projekten. Das ist eher untypisch, weil Berufstätige meistens nur um die zwei Stunden pro Woche für ihre Kontakte erübrigen können. Die Berufstätigen sind auch bei den gemeinsamen Veranstaltungen selten dabei.

Der gebürtige Wuppertaler hat über zwanzig Jahre im Stuttgarter Raum gearbeitet. Als er vorzeitig in Rente ging, zerbrach seine Ehe und er zog in die Nähe seiner Schwester, um nicht völlig alleine dazustehen. Im Raum Unna kannte er sonst niemanden. Erste Versuche, Leute kennenzulernen scheiterten. Beispielsweise beim Gassigehen im Tierheim. Einige Ehrenämter hat er angedacht und wieder verworfen.

Das änderte sich, als seine Schwester ihn auf die Zeitschenker aufmerksam machte.„Dann habe ich Kontakt aufgenommen und war plötzlich mitten drin, in der Zeitschenker-Szene. Das war eine Win-Win-Situation: Ich war einsam, die anderen waren einsam. Alles nette Menschen. Dann habe ich den ersten Zeitschenker-Partner gekriegt. Dessen Frau war anderthalb Jahre zuvor völlig unerwartet gestorben. Er war so vernünftig gewesen, sein Haus zu verkaufen und ins betreute Wohnen zu gehen, aber er vermisste Gesprächspartner auf gleicher Wellenlänge“, erläutert Schaumann. „So habe ich mich mit ihm angefreundet. Wir fahren gern mal zusammen mit dem Deutschland-Ticket los, er mit seinem Rollator, und gehen dann irgendwo einen Kaffee trinken. Und samstags spielen wir Skat, auch gemeinsam mit Bernd Kosczynski.“

Fokus legt Bernd Schaumann aber auch auf Digitales, zum Beispiel die WhatsApp-Gruppe der Zeitschenker. Diese bietet eine Menge Möglichkeiten, allein schon Verabredungen werden ganz unkompliziert. „Das Handy öffnet die Welt. Wenn einer damit mal Probleme hat, dann gucken wir danach. Das machen wir dann schon. Wir lassen da niemand mit seinen Problemen allein“, erläutert Schaumann und fügt hinzu: „Alles ist besser, als auf der Couch sitzen. Das ist mein Motto.“

Er findet es sehr wichtig, sich frühzeitig Hobbys zu suchen. Viele würden nichts außerhalb der Arbeit tun, aber erwarten, sobald sie in Rente gehen, machen sie das Fenster auf und da käme was hereingeflogen. Da käme aber nichts.„Im hohen Alter fängst Du auch nicht mehr so viel neu an.“ Er selbst könne sich dank seiner Hobbys auch schon mal alleine beschäftigen. Aber seine Antennen gehen meistens nach außen.

So hat er Bernd Kosczynski kennengelernt: Der sei ihm bei den Zeitschenkern aufgefallen und er habe ihn angesprochen. Dabei stellten beide fest, dass sie viele gemeinsame Interessen haben und sogar nah beieinander wohnen. So hat es sich entwickelt, dass Bernd Schaumann seinen Namensvetter zur Skatrunde abholt oder auch dessen Bestellungen abholt. Er findet, es war eine goldrichtige Entscheidung, bei den Zeitschenker mitzumachen.„Die Leute sind alle offen. Alle sind Singles. Manche haben keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern.“

Einsamkeit sei ein großes Thema. Beispielsweise denkt er an eine Dame, so Ende 70, die bisher sehr autark gelebt habe. Eine Hand-OP sei daran gescheitert, dass sie keine Begleitperson gehabt habe. „Das geht unter die Haut, wenn sie in deren Gesicht reinschauen.“ Für ihn ist es beruhigend zu wissen: Im Notfall sind da immer Leute, die einem helfen.„So viele Leute, wie ich jetzt kenne, habe ich mein Leben lang nicht kennengelernt.“

Mehr zu den Zeitschenkern gibt es auch online unter kirche-unna.de/senioren