Sebastian Kehl verfolgte nach dem Ende seiner Laufbahn das erste Pflichtspiel der Mannschaft, die er in den letzten sieben Jahren seiner Karriere als Kapitän aufs Feld geführt hatte, am anderen Ende der Welt. Morgens um 6.30 Uhr auf Hawaii sah er „die Jungs auf dem Rasen, ich guckte aufs Meer und wusste, jetzt ist es wirklich vorbei", erzählte er im Frühjahr 2016 in einem großen Interview mit den Ruhr Nachrichten.
Kehl hat sich treiben lassen in den ersten Monaten nach seiner Profikarriere. Er war mit der Familie unterwegs, als die Kinder wieder in die Schule mussten dann aber auch alleine. Amerika, Indien, Kanada, zuletzt Australien ferne Länder. Um Orte zu entdecken, die ihm verschlossen geblieben waren als Profi, der quasi immer zwischen Trainingsplatz, Hotel, und Stadion pendelte. Aber auch, um ganz bewusst Abstand zu gewinnen von diesem Geschäft, dem er eine glänzende Karriere verdankte.
Und dennoch war die Weltreise schon der Beginn der zweiten Laufbahn des Sebastian Kehl, die jetzt in den Sportdirektoren-Posten bei Borussia Dortmund mündete. Distanz schaffen, um wieder Nähe aufbauen zu können. Um sich darüber klar zu werden, wie es weitergehen könnte, welchen Weg er einschlagen möchte. Dass Kehl im Fußballbereich würde weiterarbeiten wollen, war vorgezeichnet und kam nicht überraschend. Seine Eloquenz, seine Wissensgier, sein Ehrgeiz - das waren fundamentale Säulen, die den Weg ebnen sollten in eine Funktionärslaufbahn.
Kehls klarer Plan passte perfekt in die Bedürfnisse seines heutigen Arbeitgebers. Verdiente Spieler nach ihrer Karriere in den Verein einzubinden, hatte schon bei Michael Zorc oder Lars Ricken sehr gut funktioniert. Und Kehl mit seinen Voraussetzungen und privaten Bindungen in Dortmund war geradezu prädestiniert. Den Wechsel auf dem Sportdirektoren-Posten wollte der BVB langfristig vorbereiten, die Pläne von Langzeit-Manager Zorc, seine Karriere rund um seinen 60. Geburtstag zu beenden, waren intern längst kommuniziert. Im Juli 2018, mit Beginn der Sommervorbereitung, kehrte Sebastian Kehl zu seinem Verein, dem er seit 2002 treu geblieben war, zurück. Borussia Dortmund schuf dafür eine neue Stelle, die des „Leiters der Lizenzspieler-Abteilung".
Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke nannte das später scherzhaft den längsten Onboarding-Prozess in der Geschichte des BVB". Kehl lernte an der Seite von Zorc jeden Tag, baute sich ein Netzwerk auf und brachte seine Vorstellungen immer stärker ein. Sebastian Kehl, die geborene Führungsfigur: Es war eigentlich keine Überraschung, dass er seine Ziele als Funktionär ebenso hartnäckig verfolgen würde wie als Spieler auf dem Rasen.
Das erste sportliche Ausrufezeichen setzte Kehl, noch bevor er offiziell von Zorc am 1. Juli 2022 den Staffelstab übernahm. Die Verpflichtung von Gregor Kobel soll er dem Vernehmen nach intern mit Vehemenz vorangetrieben haben. Auf den ersten Blick erschloss sich die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung auf dem Torwartposten nicht jedem. Mit Roman Bürki hatte die Borussia erst in der Saison zuvor verlängert - doch Kehl erkannte das große Potenzial Kobels ebenso wie die große Chance, die dessen Verpflichtung mit sich bringen sollte. Ein Schachzug, der sich nicht erst in dieser Saison auszahlte, in der Kobel nur zwei Mal schwer patzte, sich ansonsten aber durch große Konstanz in seinen Leistungen und brillante Paraden zum besten Torhüter der Bundesliga entwickelte.
Durchsetzungsstärke bewies Kehl zuvor auch schon in der Führungsetage der Borussia. Im Frühjahr 2021 deckten die Ruhr Nachrichten ein geplantes Treffen zwischen BVB-Boss Watzke und dem früheren Chefscout Sven Mislintat auf, der als Sportdirektor des VfB Stuttgart positive Schlagzeilen schrieb. Eine potenzielle Rückkehr hätte Kehls Weg auf den Sportdirektoren-Sessel blockiert, eine gleichberechtigte Zusammenarbeit soll der 43-Jährige nach Informationen dieser Redaktion damals ausgeschlossen haben. Nur eine Woche nach den ersten Berichten über ein BVB-Interesse an einer Mislintat-Rückkehr bestätigte Watzke dann, dass Sebastian Kehl im Sommer 2022 Zorc-Nachfolger werde. Der ehemalige Kapitän hatte auf eine schnelle öffentliche Entscheidung gedrängt.
Schwachstellen analysieren und mit Konsequenz und Nachdruck beheben diese Maxime wandte Sebastian Kehl quasi auch von Tag eins als Sportdirektor der Borussia an. Die Verpflichtung von gleich zwei Nationalspielern (Niklas Süle, Nico Schlotterbeck) für die Innenverteidigung sorgte für Aufsehen, das mögliche Konfliktpotenzial mit Abwehrchef Mats Hummels moderierte Kehl in einem langen Gespräch mit dem Vize-Kapitän. Am Ende entwickelte sich wie erhofft ein alle Seiten befruchtender Konkurrenzkampf.
Auf den Wechsel von Erling Haaland zu Manchester City reagierte der BVB mit der Verpflichtung von Sebastien Haller - einem der besten Strafraumstürmer Europas. Dass Haller langfristig ausfallen würde, konnte niemand ahnen. Und Kehl holte Tempo ins Team, auch wenn es bis zur Rückrunde dauerte, bis sich Karim Adeyemi akklimatisiert hatte und als Flügel-Gespann mit Donyell Malen ein Eckpfeiler der furiosen BVB-Rückrunde wurde. Bei allen Transfers wies Kehl in den Verhandlungen jene Unnachgiebigkeit nach, die ihn auch als Spieler ausgezeichnet hatte. Der von ihm eingeleitete Umbruch, hat er während der Saison mehrfach betont, sei noch lange nicht abgeschlossen. Zwei bis drei weitere Transferperioden werde er dauern. Bei einigen Personalien (Nico Schulz) war Kehl auch nicht erfolgreich. Auch das gehört zu diesem Geschäft.
Der Ex-Profi hat sich binnen kürzester Zeit Respekt verschafft. In der Branche, im Verein mit seiner klaren Ansprache, auch bei den Fans. Von Michael Zorc spricht nach nicht einmal einem Jahr gefühlt fast niemand mehr. Das gehört zur Schnelllebigkeit des Geschäfts dazu, ist aber dennoch bemerkenswert, denn Zorc war ja nicht irgendein Manager der Borussia. Er hatte den Verein über Jahrzehnte geprägt und riesige Fußstapfen hinterlassen.
Doch Kehl ist es nicht nur gelungen, sich in diesen großen Spuren sicher zu bewegen. Er ging auch eigene Wege, setzte die Neuausrichtung des Klubs auf vielen verschiedenen Ebenen mit Akribie und Entschlossenheit fort. Deutlich enger getaktete Meetings mit den einzelnen Abteilungen, eine deutlich bessere Verzahnung untereinander, frischer Wind durch neue Personen für das direkte und indirekte Umfeld der Profi-Mannschaft - Kehl hat viele Fäden in die Hand genommen.
Das erste Jahr in Alleinverantwortung könnte Kehl nun gleich mit einem Titel krönen. Ein Traum würde für ihn in Erfüllung gehen. Nach dem Sieg in Augsburg blieb er dennoch zurückhaltend, als er erklärte: „Wir haben einen Riesenschritt gemacht. Wir werden die Euphorie mitnehmen und aufsaugen, aber wir brauchen einen kühlen Kopf." Meister als Spieler und als Funktionär, das ist nicht vielen vor ihm gelungen. Doch die neunte deutsche Meisterschaft für den BVB wäre nur der Anfang - und wird seinen Ehrgeiz nur noch mehr anstacheln.
Von Dirk Krampe